Peter Wüthrich – So ist die Welt

September / Oktober 1994

Konzept: Horst Griese

Dreiteilige Installation mit gebrauchten Büchern, Bleistift auf Galeriewand.

Im Mittelalter bemühten sich Mönche darum, über die weltliche Funktion von Büchern hinauszugehen, um außergewöhnliche Kunstwerke zu schaffen, die ihrem göttlichen Inhalt würdig waren. Die sogenannten illuminierten Manuskripte wurden mit ihren eleganten, oft goldenen oder silbernen, und mit Edelsteinen und Halbedelsteinen verzierten Einbänden zum einzigartigen Ausdruck des individuellen künstlerischen Schaffens. Der handgeschriebende Text wurde zudem mit schmückenden Initilalen und Vignetten versehen, welche die formale Komposition einer jeden Seite des handgemachten Pergamentpapiers abrundetetn. Illumination unterscheidet sich von Illustration dadurch, dass ihr Ziel nicht darin bestand den Text zu erklären oder näher zu erläutern, sondern ihn vielmehr zu schmücken, um ihn zu verschönern. Verzierte Manuskripte waren deshalb nicht als reine Texte zu betrachten, sondern galten als bringer der Heiligen Schrift. Wie Schreine, Ikonen und andere heilige Objekte "repräsentierten" sie nicht das Göttliche, sondern waren an sich göttlich.

[...] Für Wütherich ist das Buch nicht nur ein Gegenstand, sondern auch eine Idee. Form und Inhalt sind untrennbar. [...]

Es ist wichtig zu erkennen, dass die Bücher in Wütherichs Objekten und Installationen fast immer geschlossen und so positioniert sind, dass die Buchrücken dem Blick oft verborgen bleiben. In einigen seiner jüngsten Arbeiten werden wir mit Lesezeichen konfrontiert (was uns mehr Aufschluss über den Leser als über das Buch selbst gibt, wenn sie uns überhaupt Informationen geben). Das bedeutet, dass der Betrachter selten konkrete Informationen über den tatsächlichen Inhalt der Bücher bekommtm. Die einzigen uns zur Verfügung stehenden Informationen sind die Größe, die Farbe und die materielle Qualität der Bücher: aber teilt und dies wirklich etwas Brauchbares mit? Schließlich sollte man keine Flasche Wein aufgrund ihres Etikettes kaufen und man kann kein Buch aufgrund seines Einbandes beurteilen! So haben wir letzten Endes  gar nichts. Wir können nur vermuten oder mutmaßen, aber wir werden die Wahrheit nie erfahren. Wie Simon Maurer schrieb, "das Buch, und mit ihm das Leben, die Welt, ist ein Mysterium"*. Es ist gerade dieses Mysterium, das Wütherichs gesamtes Werk bis heute charakterisiert. Um hinter dieses Rätsel zu kommen, muss man lernen. "zwischen den Zeilen zu lesen", hinter die individuellen Bücher, zwischen die einzelnen Arbeiten und Installationen zu sehen. Gerade so wie jedes Buch ein Teilstück in einer größeren Ansammlung von Büchern ist, die alle Werke einschließt, so ist jedes Werk lediglich eine Einheit in einem komplexen Netzwerk von Ideen. Jedes Werk ist nur eine in einer unendlichen Anzahl von Möglichkeiten.

Auszüge aus dem Text Ex Libris von Gérard A. Goodrow (übersetzt aus dem Amerikanischen von Stefani Steindor). Der vollständige Text ist im Künstlerhaus erhältlich.

*Simon Maurer: Das Schlagzeugsolo und die Frage, was gut sei. In: Peter Wütherich. Mit den Büchern. Kunstmuseum Thun, 1992.

 

Die Austellung wurde gefördert durch:

PRO HELVETIA Schweizer Kulturstiftung